Rund 55 Prozent aller Kinder und Jugendlichen haben eine schlechte Körperhaltung, die sie nicht korrigieren können. Vielen gelingt es nicht, ihre Wirbelsäule voll aufzurichten und längere Zeit stabil zu stehen. Stattdessen fallen die Betroffenen beispielsweise durch nach vorn hängende Schultern, durch einen Rundrücken, einen vorstehenden Kopf, ein starkes Hohlkreuz oder unterschiedlich ausgeprägte Rückenhälften auf.
Das sind Ergebnisse des Forschungsprojekts Kid-Check, bei dem Ärzte und Wissenschaftler der Universität des Saarlandes seit vielen Jahren nach den Ursachen von Haltungsschwächen und Haltungsschäden im Kindes- und Jugendalter suchen.
Schlechte Körperhaltung:
"Eine schlechte Körperhaltung ist nicht nur auf zu schwache und schlecht gedehnte Muskeln zurückzuführen", sagt Dr. Oliver Ludwig, der wissenschaftliche Leiter des Kid-Check-Projekts, "sondern vor allem auf einen Mangel an Körpergefühl. Den Kindern gelingt es nicht, ihre Muskulatur gezielt anzusteuern und zu aktivieren." Selbst unter den Kindern mit relativ gut trainierten Muskeln gelingt es rund 15 Prozent wegen ihres schlechten Körpergefühls nicht, ihre Wirbelsäule aufzurichten und gerade zu halten. Als Hauptursache für das schlechte Körpergefühl und die schwache oder schlecht gedehnte Muskulatur nennen die Forscher Bewegungsmangel.
Alle Fotos zeigen denselben Jungen. Mehrere Jahre lang haben Wissenschaftler der Saar-Uni verfolgt, wie sich seine Körperhaltung entwickelt. Obwohl er bewusst versuchte, gerade zu stehen, fiel der Proband als 14-Jähriger durch eine schlechte Haltung auf: mit vorstehendem Kopf, hängenden Schultern, ausgeprägtem Hohlkreuz. Durch regelmäßiges Training konnte der Jugendliche seine schlechte Haltung deutlich verbessern. Heute gelingt es ihm, sich gerade zu halten.
In mehreren Studien konnten die Wissenschaftler des Kid-Check jedoch nachweisen, dass sich fast alle Haltungsschwächen und die dadurch bedingte schlechte Körperhaltung mit gezielten Übungen beheben lassen. Mit einem jeweils individuell zusammengestellten Programm, zu dem neben Koordinations-, Dehnungs- und Kräftigungsübungen auch Übungen zur Wahrnehmung des eigenen Körpers zählen, kann eine schlechte Körperhaltung in der Regel in drei bis vier Monaten verbessert werden.
Wie lange jedoch bleibt die verbesserte Körperhaltung bestehen, wenn nicht mehr trainiert wird? Das Kid-Check-Team hat diese Frage noch weiter gefasst: Profitieren Menschen, die als Kinder und Jugendliche ein Training gegen Haltungsschwächen absolviert haben, davon auch noch im Erwachsenenalter?
Studie über 16 Jahre
Die Antwort haben die Kid-Check-Forscher der Universität des Saarlandes und der Technischen Universität Kaiserslautern in einer Langzeitstudie ermittelt. Von 2001 bis 2016 nahmen 57 männliche Jugendliche, die anfänglich alle durch ausgeprägte Haltungsschwächen aufgefallen waren, an einem Training teil. Die Jungen stiegen im Alter von 14 Jahren in die Studie ein. Rund die Hälfte beendete ihre Teilnahme mit Erreichen der Volljährigkeit. Die anderen trainierten weiter. Alle jedoch wurden bis zum Alter von 20 Jahren jährlich untersucht.
Die Teilnehmer trainierten zweimal pro Woche unter qualifizierter Anleitung in einem Fitnessstudio. Auf dem Plan standen zunächst Kräftigungs- und Dehnübungen. Besonders trainierten die Jugendlichen die Bauch-, Gesäß-, Hüftbeuger- und hinteren Oberschenkelmuskeln, die wesentlich daran beteiligt sind, das Becken und die Wirbelsäule aufrichten zu können. Außerdem lernten die Jungen, ihre Körperwahrnehmung zu verbessern und dadurch ihre Haltemuskeln gezielt anzusteuern. Die sogenannten sensomotorischen Übungen helfen dem Gehirn, zur Korrektur der Haltung die richtigen Muskeln zielsicher einzusetzen.
18 Jugendliche, die kein Interesse an einem Fitnesstraining hatten, dienten in der Haltungsstudie als sogenannte Kontrollgruppe. Auch sie wurden über die Jahre hinweg immer wieder untersucht, um zu überprüfen, wie sich die Körperhaltung von "Sportmuffeln" im Laufe des Wachstums entwickelt.
Ruhehaltung
Die Wissenschaftler des Kid-Check ermitteln Haltungsschwächen mit speziellen Haltungstests. Dazu fotografieren die Experten das stehende Kind von der Seite. Zuerst muss sich die Testperson ganz entspannt hinstellen. Die Körperhaltung wirkt dann in der Regel schlaff und etwas gekrümmt, weil das Kind in Ruhehaltung steht. Man spricht von habitueller (gewohnheitsmäßiger) Haltung. Das laxe Stehen ist aber noch kein klarer Hinweis auf Haltungsschwächen.
Aktiv aufgerichtete Haltung
Dann jedoch wird das Kind aufgefordert, seine schlaffe Haltung durch bewusstes Ansteuern und Anspannen der Muskulatur gezielt zu korrigieren, den Körper also aufzurichten und gerade zu halten. Sobald es diese aktiv aufgerichtete Körperhaltung eingenommen hat, konzentrieren sich die Wissenschaftler auf vier Punkte: Ohr, Schultergelenk, Hüftgelenk und Außenknöchel. Bei einer guten Körperhaltung stehen diese Punkte ziemlich genau übereinander. Überprüft wird das mithilfe einer Lotlinie, die während der Untersuchung per Laser auf den Körper des Kindes projiziert wird. Kann das Kind nicht oder nur kurz im Lot stehen, deutet das auf eine Haltungsschwäche hin.
Aktive Haltung mit geschlossenen Augen
Schließlich muss das Kind die Augen schließen und dabei versuchen, die zuvor eingenommene, aufrechte Haltung auch weiterhin beizubehalten. Dies gelingt vielen Mädchen und Jungen aber nicht mehr. Denn durch ständigen Bewegungsmangel im Alltag ist bei ihnen die Wahrnehmung für den eigenen Körper geringer geworden.
Normalerweise informieren zahlreiche Sinneszellen in den Muskeln, Sehnen, Gelenken, in der Haut und im Gleichgewichtsorgan das Gehirn, welche Position der Körper gerade einnimmt, wie die Gelenke stehen und wie die Muskulatur gespannt ist. Das wird als Körpereigenwahrnehmung bezeichnet, landläufig auch Körpergefühl genannt. Experten sprechen von Propriozeption.
Mangelhaftes Körpergefühl
Bei Bewegungsmuffeln sind diese wenig genutzten Sinne der Körperwahrnehmung regelrecht abgestumpft. Umso wichtiger werden dann die Informationen, die die Augen dem Gehirn liefern. Beschäftigt sich das Kind in seiner Freizeit nur noch mit Handy, Spielekonsole oder Computer, so konzentriert sich das Gehirn immer mehr auf die Informationen aus den Augen und immer weniger auf die Sinnesinformationen aus dem Körperinneren.
Für uns völlig unbewusst, registrieren die Augen im äußeren Bereich des Gesichtsfeldes ständig, ob und wie sich unsere Körperposition ändert. Kinder mit schwacher Körperwahrnehmung können ihre Haltung solange noch bewusst korrigieren, wie die Augen geöffnet sind, denn das hat ihr Gehirn ja geübt. Schließen sie die Augen, so bleiben dem Gehirn nur noch die Sinnesinformationen aus dem Körperinneren. Fehlt jedoch die Erfahrung, diese inneren Sinne zu nutzen, fällt die Haltung mit dem Schließen der Augen in sich zusammen, was man als Haltungsverfall bezeichnet.
Trainingserfolge
Bei den Jungen, die im Rahmen der Langzeitstudie regelmäßig am Training teilnahmen, hatte sich die schlechte Körperhaltung nach zwei Jahren deutlich verbessert. Sie hatten sogar eine merklich bessere Ruhehaltung, eine deutlich bessere aktive Haltung und sogar bei geschlossenen Augen eine stark verbesserte aktiv aufgerichtete Haltung. Die Mitglieder der Kontrollgruppe hingegen, die nicht trainierten, fielen weiterhin durch Haltungsschwächen bei allen drei Tests auf.
Bei den Jugendlichen, die im Alter von 18 Jahren aus dem Training ausstiegen, verschlechterte sich die Körperhaltung beim entspannten (habituellen) Stehen in den beiden folgenden Jahren wieder messbar. Die jungen Männer hatten letztlich wieder ähnlich auffällige Haltungsdefizite wie die Kontrollgruppe, die all die Jahre überhaupt nicht trainiert hatte. Hingegen fielen die Jugendlichen, die im Alter zwischen 18 und 20 Jahren weiter trainierten, durch eine weiter verbessere Ruhehaltung im Stehen auf.
Im Gehirn gespeichert: Noch interessanter sind die weiteren Erkenntnisse. Die Jugendlichen, die mit 18 Jahren aufgehört hatten, waren zwei Jahre später dennoch in der Lage, ihre schlaffe Ruhehaltung durch gezieltes Ansteuern der Muskulatur zu korrigieren. Allerdings gelang ihnen das nicht mehr mit geschlossenen Augen. Das zeigt, dass sich die Körpereigenwahrnehmung in den beiden Jahren ohne Training wieder verschlechtert hat.
"Die unbewusste Körperhaltung, also die Ruhehaltung, kann offenbar nur dauerhaft verbessert werden, wenn sie ständig gezielt trainiert wird", sagt Oliver Ludwig. Allerdings bleibt die Fähigkeit, die Muskulatur gezielt anzusteuern und anzuspannen, auch ohne Training über viele Jahre weitgehend erhalten. "Damit vergleichbar sind zum Beispiel Schwimmen, Radfahren oder Skifahren", erklärt Ludwig. "Wurde das dafür erforderliche Bewegungsprogramm einmal erlernt, bleibt es vermutlich für lange Zeit im sogenannten prozeduralen Gedächtnis gespeichert. Es kann noch Jahre später, ohne dass ein regelmäßiges Üben erfolgt, abgerufen werden."
Lebenslang üben
Dass es mit geschlossenen Augen jedoch nicht mehr gelingt, durch bewusstes Anspannen eine gute Haltung einzunehmen, ist ein eindeutiger Hinweis darauf, dass ein gutes Körpergefühl nur durch ständiges Üben erhalten bleibt. Die Wissenschaftler ziehen daraus zwei Schlussfolgerungen für den Alltag. Zum einen betonen sie, dass ein regelmäßiges, anspruchsvolles Training im Kindes- und Jugendalter für eine gute Körperwahrnehmung wichtig ist. Im Optimalfall sollte es ein Leben lang beibehalten werden. "Dafür sind alle Sportarten, die das Körpergefühl trainieren, besonders geeignet", erläutert Professor Dr. Michael Fröhlich, Sportwissenschaftler an der Technischen Universität Kaiserslautern und Mitglied im Kid-Check-Team. Dazu gehören beispielsweise Kampfsportarten, Turnen, Rhythmische Sportgymnastik und Eiskunstlauf. "Ganz allgemein kann aber auch ein normales Trainingsprogramm gezielt durch Übungen ergänzt werden, die die Körperwahrnehmung schulen", sagt Fröhlich.
Zum anderen bestätigen die Ergebnisse der Kid-Check-Wissenschaftler, dass im Kindes- und Jugendalter bereits wichtige Grundlagen für Bewegungskompetenzen gelegt werden, von denen man im Erwachsenenalter noch profitiert. Dazu gehört auch, den Körper gezielt aufzurichten. Das ist wichtig für viele Alltagsbewegungen wie das Heben und Tragen eines Gegenstandes.
Quelle: Saarbrücker Zeitung 6. April 2017
Von: Martin Lindenmann